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„Gäbe es die Zivilgesellschaft nicht, wäre das gesamte Asylsystem mittlerweile zusammengebrochen“ (I 17, Führungskraft, Nov.15).
Die Flüchtlingskrise hat gezeigt, dass die Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle bei der Bewältigung von Herausforderungen der Immigration und Integration spielt. Im Herbst und Winter
2015 wäre es ohne zivilgesellschaftliches Engagement in Österreich zu einer humanitären Katastrophe gekommen.
Die Zivilgesellschaft hat in dieser Zeit besonders hohe Beiträge geleistet, sei es in der Erstversorgung, in der Organisation von Flüchtlingsunterkünften, in Integrationsmaßnahmen und in
der Mobilisierung und Koordination freiwilliger Hilfe. Zudem haben zivilgesellschaftliche AkteurInnen auch die öffentliche Meinung mitgeprägt und die Vernetzung von Freiwilligen befördert.
Es ist davon auszugehen, dass Integration ohne weitere Beiträge der Zivilgesellschaft und ihrer
Organisationen auch in Zukunft nicht möglich sein wird. In dem vorliegenden Projekt wurde
daher folgenden Fragen nachgegangen:
Was hat die Zivilgesellschaft im Herbst 2015 zur Bewältigung der sogenannten Flüchtlingskrise geleistet und wie wurde dies erreicht?
Wie wurde die Arbeit der Zivilgesellschaft von syrischen Flüchtlingen wahrgenommen?
Was kann daraus für die Bewältigung weiterer Herausforderungen der Immigration und
Integration gelernt werden?
Alle genannten Probleme bzw. Lernchancen müssen vor dem Hintergrund der Ausnahmeund Krisensituation sowie der hohen Leistungen der Zivilgesellschaft betrachtet werden.
Eine große Herausforderung für die Organisationen waren Informationsdefizite und sich laufend ändernde Rahmenbedingungen. Auch die gesellschaftliche Polarisierung, Rechtsunsicherheiten bzw. die Nichteinhaltung von Gesetzen durch politische Instanzen und Defizite der
wohlfahrtsstaatlichen Aufgabenübernahme waren belastend. Zum Teil hat die Zivilgesellschaft
Aufgaben des Staates übernommen. Wo im Auftrag der öffentlichen Hand gearbeitet wurde,
gab es häufig mangelnde finanzielle Planungssicherheit und späte Zahlungen für geleistete
Arbeit. Die Situation der AsylwerberInnen war aufgrund der mangelnden politischen Abstimmung bzw. Bereitschaft zusätzlich belastet.
Das Spektrum der angebotenen Leistungen war extrem breit, neben der Erstversorgung und
Akuthilfe umfasst es die Organisation von Wohnraum, Weiterbildungen oder Freizeitgestaltung,
Kinderbetreuung, Übersetzungsarbeit, Rechtsberatung, Unterstützung bei Behördenwegen,
gesundheitliche Versorgung und vieles mehr.
Die Bereitschaft zu freiwilligem Engagement nahm im Herbst 2015 ein Hierzulande nie dagewesenes Ausmaß an. Freiwillige haben sich in nahezu allen Bereichen der Flüchtlingsarbeit
engagiert. Viele Freiwillige wurden selbstorganisiert und spontan tätig, ein Großteil allerdings
half im Rahmen bestehender NPOs oder neugegründeter Vereine. Für die zivilgesellschaftlichen
Organisationen war die Mitarbeit dieser vielen Menschen absolut notwendig, um das hohe Leistungsniveau anzubieten. Mit viel Einsatz und Empathie wurde nicht nur ein hohes Maß an Hilfe
geleistet, sondern damit auch ein politisches Statement für Menschlichkeit und Toleranz gesetzt. Das Management der vielen HelferInnen war unter den gegebenen dynamischen Rahmenbedingungen allerdings auch eine Herausforderung.
So war eine vorausschauende Bedarfsplanung aufgrund externer Faktoren, wie der Öffnung
bzw. Schließung von Grenzen oder der Bereitstellung von Unterkünften und Transportmöglichkeiten kaum möglich. Insgesamt betrachtet haben es die NPOs geschafft, sehr flexibel auf
Anforderungen zu reagieren.
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Die Mobilisierung und Gewinnung von HelferInnen hat über alle Organisationen hinweg
größtenteils gut, schnell und unbürokratisch funktioniert, u.a. mittels intensiver und effektiver
Nutzung von Social-Media. So konnten die Leistungen der Freiwilligen trotz eines Rückgangs
der Engagementbereitschaft im Laufe des Winters aufrecht erhalten bleiben. Aufgrund des
hohen und schwer planbaren Bedarfs wurden breite, unspezifische Maßnahmen zur Gewinnung
von Freiwilligen gesetzt. Dadurch konnten ausreichend HelferInnen mobilisiert werden, vielfach kam es aber auch zu einem temporären Überangebot an Freiwilligen.
In der akuten Phase gab es oft nur eingeschränkte Möglichkeiten zur Selektion von Freiwilligen,
es waren kaum Auswahlverfahren möglich und auch die Möglichkeiten zur Orientierung
und Einschulung der HelferInnen waren begrenzt und es kam mitunter zu einem Mis-match
zwischen Tätigkeiten und Ansprüchen der HelferInnen. Zu Beginn der Akutphase im September
fehlten oft klare Kompetenzaufteilungen zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen. Andererseits
entstanden daraus große Spielräume für die Freiwilligen, die sich vielfach selbst organisierten, Strukturen aufbauten und sich in einem Mix aus Erfahrenem und Neuem selbst einschulten, koordinierten und in ihrer Arbeit ergänzten. Häufig waren diese Spielräume auch der Ausgangspunkt für die Gründung neuer Initiativen.
Die Übertragung von Verantwortung an die Freiwilligen hat v.a. dann gut funktioniert, wenn
Organisationen klare Ziele und Ansprechpersonen definierten. Weiters wichtig waren Information, Feedback-Kanäle und die Einbindung der Freiwilligen in die Gestaltung der Tätigkeit. War dies nicht gegeben, kam es zu Überforderung, Frustrationen oder auch Konflikten
mit bestehenden oder neu eingeführten Ablauf- und Entscheidungsstrukturen.
Eine weitere Herausforderung stellte die hohe Fluktuation sowohl unter Freiwilligen als auch
z.T. unter den hauptamtlichen KoordinatorInnen dar. Diese erschwerte die Etablierung von
strukturierten Kommunikationskanälen und die Informationsweitergabe und führte zu Ineffizienzen in der Ablauforganisation und Ärger bei manchen Freiwilligen. Dies betraf eher etablierte
NPOs. Basisinitiativen, die ihre Strukturen um aktuelle Ziele formten, konnten teilweise sehr
rasch funktionale Kommunikationskanäle aufbauen.
Sowohl Freiwillige als auch Hauptamtliche waren oft mit enormen Belastungen konfrontiert.
Maßnahmen gegen Überlastung und Supervisionsangebote und sonstige Formen der Unterstützung waren daher für alle MitarbeiterInnen wichtig. Sie wurden sehr geschätzt, und hätten
früher und stärker angeboten werden können. Neben der Tätigkeit selbst trugen auch Anerkennung in (sozialen) Medien der Organisationen und in den Teams zur Motivation bei.
Es gab große Unterschiede in der Struktur und Kultur der beteiligten Organisationen. Hier ist
ein Kontinuum beobachtbar, entlang der Differenz Hierarchie/Struktur versus Flexibilität/Offenheit. Die eher hierarchisch organisierten Einsatzorganisationen konnten schnelle
Entscheidungen treffen, rasch mit ähnlichen Organisationen kooperieren und sie konnten auf
die für Katastrophenfälle vorbereiteten Strukturen zurückgreifen. Selbst etablierte Hilfsorganisationen mussten diese erst durch learning by doing aufbauen. Neu gegründete Basisinitiativen wiederum hatten den Vorteil von Flexibilität und Offenheit für spontane Entscheidungen.
Für manche Freiwilligen waren diese Strukturen motivierend, andere fühlten sich in klareren
Strukturen wohler. In fast allen Organisationen wurde aber von strukturellen Änderungen
berichtet, so waren Einsatzorganisationen mit der Notwendigkeit flexiblerer Bereiche konfrontiert, Basisinitiativen machten häufig eine vergleichsweise rasche Entwicklung zu stärkeren
Strukturen durch. Die Organisationen haben generell Herausforderungen des sehr raschen
Größenwachstums und der Notwendigkeit organisationaler Flexibilität überraschend gut bewältigt. Es wurde Mehrarbeit bewältigt, rasch neues Personal eingestellt und eingesetzt, Regeln bewusst zeitweise außer Kraft gesetzt, aber gleichzeitig notwendige Strukturen bewahrt.
Fast alle Organisationen berichten von deutlichen Lernschritten.
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Kooperationen innerhalb der Zivilgesellschaft funktionierten grundsätzlich gut, in der Regel
umso besser, je ähnlicher die PartnerInnen einander waren. Die Kooperationen zwischen strukturell unterschiedlichen AkteurInnen war zum Teil schwieriger, hier gab es unterschiedliche
Standards in Bezug auf Verlässlichkeit, Reaktionsgeschwindigkeit, Spielraum für Einzelpersonen etc. Zur Kooperation mit der öffentlichen Hand gab es unterschiedliche Aussagen, z.T.
wurde diese als erfolgreich beschrieben, z.T. aber auch kritisiert, v.a. die Nicht-Wahrnehmung
von Aufgaben seitens der öffentlichen Hand betreffend. Die Einrichtung der Stelle eines
Flüchtlingskoordinators durch die Stadt Wien wurde sehr positiv wahrgenommen, sie unterstützte die Bündelung des Hilfsangebots, v.a. durch die zentrale Informationsstelle.
Wenngleich die Arbeit von vielen als sehr befriedigend wahrgenommen wurde, so war sie auch
extrem belastend. Zum einen waren viele Hauptamtliche wie Freiwillige zu lange im „Notfallmodus“, sie arbeiteten am Limit. Es gab Freiwillige, die für den Einsatz ihren Job gekündigt
oder ihr Studium aufgegeben hatten, Engagement im Ausmaß von 15h oder mehr pro Tag war
keine Seltenheit. Auch seelische Belastungen wurden von fast allen wahrgenommen, deutlich
mehr allerdings von Personen, die für diese Art von Tätigkeit nicht ausgebildet waren.
Die befragten syrischen Flüchtlinge schätzen die vergleichsweise gute Behandlung in Österreich, die Leistungen der Zivilgesellschaft und die soziale Absicherung – sofern sie bereits in
deren Genuss kommen. Gleichzeitig berichten alle von erheblichen Problemen, v.a. in Bezug
auf lange und ungewisse Verfahren, die Situation und Versorgungslage in Notquartieren,
Deutschkurse, Schwierigkeiten bei der Wohnungs- und Arbeitssuche nach Erhalt des Asylbescheides. Manche sind auch enttäuscht, da sie höhere Erwartungen an Österreich hatten, nicht
zuletzt aufgrund falscher Versprechungen durch SchlepperInnen.
Generell war das Anwachsen zivilgesellschaftlichen Engagements positiv für das Image der
Zivilgesellschaft und der NPOs, für das Selbstbild und die persönliche Weiterentwicklung vieler
Beteiligter, für Kontakte zwischen Einheimischen und Asylsuchenden und natürlich auch für
die Aufrechterhaltung der Versorgung. Gesellschaftspolitisch ist es dennoch kritisch zu beurteilen, dass quantitative und qualitative Standards dem Wollen und Können privater AkteurInnen überlassen wurden. Verantwortungsbewusste Menschen haben somit auf eigene (zeitliche und materielle) Kosten die Lücke geschlossen, die der Staat gelassen hatte.
Eine professionelle und mit Ressourcen abgesicherte Grundversorgung durch die öffentliche
Hand und NPOs könnte Sicherheit stiften. Der Zivilgesellschaft bliebe Spielraum für Aufgaben
der Integration, u.a. der Schaffung eines engmaschigen Netzes von direkten Kontakten zwischen den Zugewanderten und der lokalen Bevölkerung. Hier kann auch eine wichtige Rolle
für größere NPOs liegen, nämlich die Unterstützung lokaler, basisorientierter Initiativen, die
Integrationsarbeit leisten.
„Im Moment (Anm. November 2015) habe ich das Gefühl, ganz Österreich ist Zivilgesellschaft. Der Staat hat sich ganz zurückgezogen, überzeichnet gesagt“ (I 17).
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