Description |
Das Vorhaben verfolgt eine synthetisierende Perspektive auf die saisonale bäuerliche Arbeitsmigration (otchod) und die transkontinentale Fernmigration (pereselenie). Es setzt sich für den Zeitraum von den 1830er Jahren bis 1914 erstens zum Ziel, Strukturen, Formen, Umfang und Wandel der Migration zu untersuchen. Zweitens thematisiert es die materiellen und immateriellen push- und pull-Faktoren in Ausgangs- und Zielräumen, die regions-, gruppen-, generations-, schichten- und genderspezifischen Aspekte der Migration inklusive ihrer Hürden. Ein Schwergewicht wird auf die Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Migrationsformen und den Heimat- und Zielregionen gelegt. Schließlich werden Inklusionschancen und Exklusionsrisiken der Migranten in den Zielgebieten untersucht. Damit gerät die Remigration von einer Million Menschen in den Fokus. War sie ein Indiz des Scheiterns? Können Kriterien formuliert werden, die eine Remigration wahrscheinlich machte? Kehrten sie in ihre Heimat zurück? Wurden sie reintegriert?Das Projekt ist als Synthese aus Großraumstudie mit höherem Abstraktionsniveau und eher kleinräumiger Fallstudie mit sozialhistorischer Tiefenschärfe konzipiert. Raum, eine Querschnittsanalyse mittlerer Reichweite, und Akteure fungieren als Klammer. Der Fokus liegt auf den Gouvernements Jaroslavl, Kaluga und Tver des Zentralen Industriegebiets mit ihrer fast rein großrussischen Bevölkerung. Sie wiesen den prozentual höchsten Anteil an otchodniki auf, partizipierten aber unterschiedlich intensiv am pereselenie. Um Migrationsverhalten zu erklären, ist es nötig, die strukturellen Rahmenbedingungen zu analysieren: die Spezifika in den Entsendegebieten wie die sozioökonomische Lage von der Gouvernements- bis zur Dorfebene, lokale Traditionen, Netzwerke und Vorlieben, eine bestimmte Zielregion aufzusuchen, um Geld zu verdienen. Hinzu kommen familiäre Gründe wie Besitzverhältnisse, Familiengröße und individuelle wie Alter, Geschlecht, Bildung oder handwerkliche Fähigkeiten. Diese Parameter helfen zu erklären, weshalb otchodniki mit der Tradition brachen und für das pereselenie optierten, obwohl ihr Entschluss einen bis zu zweijährigen Einnahmeausfall bedeutete, den staatliche Beihilfen nicht kompensierten. Noch schwieriger als die ökonomischen waren die gesundheitlichen Risiken zu kalkulieren. Das Projekt greift daher zudem den Nexus von Migration und Gesundheit auf, dem sich die moderne Migrationsforschung seit kurzem zuwendet.Von der bisherigen Forschung hebt sich das Projekt dadurch ab, dass es den otchod nicht mit Perspektive auf die Entstehung einer Arbeiterschaft, sondern in seinen Auswirkungen auf die Akteure und ihre ländliche Heimat untersucht. Indem es die zwei Migrationsformen nicht wie bisher isoliert, sondern gerade in ihrem Wechselspiel betrachtet, verheißt es, den Wandel traditionaler Migrationsweisen erklären zu können.
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